
Der Mann konnte ein ausgesprochen schönes Paar Schuhe sein eigen nennen. Er besaß sie seit vielen Jahren. Obwohl er sie tagtäglich getragen hatte, blieben sie stets zu klein geraten. Nur eine halbe Nummer, aber immerhin! Er hatte sie in dem Bewusstsein gekauft, dass sie nicht ganz zu seinen Füßen passten. Als er beim Kauf gezögert hatte, wurde er von Freunden zum Kauf gedrängt: „Ach, ein wenig zu klein, was machte das schon. In ein paar Wochen sind sie eingelaufen und du spürst den fehlenden Platz gar nicht mehr! Die sind viel zu schön, um sie stehen zu lassen, bessere wirst du für den Preis nicht finden!“ Er war nicht ganz überzeugt, aber die anderen würden es vielleicht besser wissen als er? Alle wollten solche Schuhe, aber es war das letzte Paar, das wenigstens annähernd seine Größe hatte.
Am Anfang drückten sie nur ein wenig und er hatte gehofft, dass sich seine Füße und die Schuhe arrangierten. Er hatte darauf vertraut, dass er sich mit der Zeit daran gewöhnen würde. Aber die Schuhe blieben zu klein und der fehlende Platz tat seinen Zehen weh. Die Schuhe wurden auch nicht größer. Sie drückten! Er hatte alles unternommen, um den fehlenden Platz auszugleichen. Die Zehen einrollen, dünnere Socken, autogenes Training, Meditation. Alles erfolglos, die Schuhe blieben zu klein oder die Füße zu groß. Egal wie man sich drehte und wendete, sie passten nicht zusammen, seine Füße und diese Schuhe!
Vor ein paar Jahren. als die Schuhe noch neu und schön waren, hatte ihr Anblick über seine schmerzenden Zehen hinweggetröstet. Aber die Jahre waren weder an ihm noch an den Schuhen spurlos vorüber gegangen. Seine Zehen waren knochiger und unbeweglicher denn je. Und die Schuhe? Ihre Sohlen waren abgelaufen, Das Leder war fleckig und stumpf geworden und hatte kleine Risse bekommen. Wenn er sich abends endlich aus ihnen befreite, betrachtete er sie missmutig. Dabei war es nicht die fehlende Schönheit, die ihm Verdruss bereitete. Es war die Tatsache, dass sie ihn nach all den Jahren mehr belasteten als je zuvor. Während er früher nur kurz vor dem Anziehen die Luft anhalten musste, damit der Schmerz in den Füßen nicht allzu übermächtig wurde, beschäftigten ihn seine Schuhe heute schon beim Frühstück. Er wurde regelrecht missmutig darüber. Seine Schuhe bereiteten ihm Unbehagen. Körperlich schon seit er sie besaß. Die seelische Belastung war neu und: Sie nahm zu.
Als er zum Start seines dreiundfünfzigsten Kurs im Autogenen Training erschien, fragte ihn der Meister, was er denn glaubte noch Neues lernen zu können. Da schüttete der Mann seinem Meister das Herz aus und zeigte mit dem Finger auf die mittlerweile verhassten Schuhe. Der Meister war ein weiser Mann und sagte: „Guter Mann, da können die Schuhe nichts für. Sie können noch so viel versuchen sich das Unabänderliche schön zu meditieren. Das Beste wird aber sein, sich neue Schuhe zu kaufen!“ Dann ließ er den Mann stehen. Der betrachtete eine Weile die Schuhe, zog sie ein letztes Mal aus und stellte sie sorgfältig neben die Haustür. Eigentlich hatte er sich direkt neue Schuhe kaufen wollen, aber als seine nackten Füße die Wiese unter sich spürten und er endlich mit seinen Zehen wackeln konnte, wann immer ihm danach war, änderte er seine Meinung. Wer braucht schon Schuhe!