
Über das Verhältnis von Mensch und Tier lässt sich viel lesen. Putzige Katzenbilder durchseuchen das Netz soweit die Maus klicken kann. Ganze Religionen beschäftigen sich mit der Frage, als welches Tier der nicht folgsame und sündige Mensch nach dem Tod wieder geboren werden könnte. Dies führte in der Vergangenheit zu den absurdesten Geschichten und Vorstellungen. Zu guter Letzt wären noch die obligatorischen Tiervergleiche erwähnenswert:
Falsch wie eine Schlange. Störrisch wie ein Esel. Gazellengleich. Wie ein Elefant im Porzellanladen. Lästig wie eine Fliege.
Meine Tante Fine benutzt diese Vergleiche gerne und oft. Meistens untermalt sie ihre Äußerungen mit bildhafter Sprache. Erst neulich wieder, als ich sie nachmittags besuchte, um mit ihr Kaffee zu trinken. Ich hatte Marzipantorte gekauft, Tante Fine liebt Torte sehr. Da schmeckt der Kaffee nochmal so gut, behauptet sie. Wer will ihr da widersprechen. Als sie das erste Stückchen Kuchen gegessen hatte, rückte sie unversehens mit der Sprache raus.
„Ich mache mir Sorgen um Frau Gebberich!“
Dazu muss man wissen, dass Frau Gebberich die langjährige Nachbarin meiner Tante Fine ist, der sie freundschaftlich zugetan ist, was auf Gegenseitigkeit beruht. Frau Gebberich ist meines Wissens nach um die 80 und damit nur wenige Jahre älter, als meine Tante Fine. Frau Gebberich wohnt im Erdgeschoss, was ein Glück ist, da sie nicht mehr gut zu Fuß ist. Seit einiger Zeit hat sie einen Rollator, den sie sorgfältig im Treppenhaus abstellt. Auch wenn sie einkaufen geht. Sie will ihn schonen, für den Fall, dass sie ihn wirklich einmal brauchen sollte. Deswegen schleppt sie sich lieber, wie die letzten Jahre geübt und erprobt, mit ihrem Stock und dem Trolli zum Lidl um die Ecke. Frau Gebberich trennt sich nur ungern von einstudierten Ritualen. Da ich davon ausgehe, dass es um die Inobhutnahme des Trollis geht und der Rollator endlich zum Einsatz kommen soll, frage ich entsprechend nach. Aber Tante Fine winkt ab und nimmt noch ein Stück Torte. Das scheint ihr noch etwas Aufschub zu gewähren, damit sie ihre Gedanken ordnen kann. Sie erklärt mir, dass es um etwas anderes geht:
„Frau Gebberich wird immer komischer. Sie war schon immer eigen: Alles hat seinen festen Ablauf. Ihr Tag läuft nach festgelegten Mustern und Ritualen ab. Alles ist geplant und gut vorbereitet. So war sie schon immer. Aber früher kam sie besser mit Störungen des Ablaufs zurecht. Wenn sie um 11 Uhr anfing das Mittagessen zu kochen und das Telefon klingelte, dann konnte sie gut damit umgehen. Sie nahm das Gespräch an und hilt sich kurz. Das Essen war dennoch um 12 Uhr fertig. Aber jetzt? Jetzt bringt sie so ein klingelndes Telefon völlig aus dem Takt. Sie kommt mir vor, wie eine Ameise. Ameisen bewegen sich auf festen Straßen. Wehe, wenn ihnen etwas auf den Weg fällt! Dann tippeln sie auf der Stelle. Sie kommen nicht vorwärts, können nicht rückwärts gehen und links und rechts kommen sie am Hindernis auch nicht vorbei. Eine furchtbare Situation! So geht es Frau Gebberich. Sie ist für mehrere Stunden handlungsunfähig, wenn ihr Tagesablauf gestört wird.“
Ich denke nach und stelle mir eine Ameisenstraße vor, auf der ein Blatt gefallen ist. Keine der Ameisen kann etwas tun und sie sind zum Verbleib auf der Stelle verdonnert. Ich muss an den Sohn meiner Freundin Lene denken. Bei dem wurde ein Autismusspektrumsstörung festgestellt. Lene sorgt jeden Tag dafür, dass er einen geregelten Tagesablauf hat, weil ihn Unvorhergesehenes genauso aus dem Takt bringt, wie Frau Gebberich. Durch die Diagnose konnte er eine hilfreiche Autismustherapie bekommen.
„Vielleicht sollte Frau Gebberich mal zum Arzt gehen. Vielleicht hat sie genauso wie Lenes Sohn eine Autismussprektumsstörung. Die Diagnsose könnte ihr vielleicht helfen?“, sage ich, weil ich gerne Lösungen habe und schlecht aushalten kann, wenn ich nicht wirklich hilfreich anpacken kann. Tante Fine runzelt die Stirn und schaut mich über ihre Brille hinweg an.
„Diagnose?! Papperlapapp! Was soll denn eine Diagnose helfen? Früher mussten wir mit dem leben, was wir hatten und das beste daraus machen.“ Ich nicke und sage: „Also gab es damals schon die Ressourcenorientierung.“
„Kindchen, das kannst du nennen, wie du möchtest – aber eine Diagnose hilft Frau Gebberich auch nicht weiter. Bis so ein Arzt herausgefunden hat, welche Art der Autismusspektrumsstöung sie eventuell haben könnte, ist sie vielleicht schon tot! Nein – sie braucht jetzt Hilfe und keine Diagnose. “
Wir schweigen und essen Kuchen. „Kannst du Frau Gebberich vielleicht das Telefon vormittags leise stellen? Dann bekommt sie ihre Anrufe auf ihren Anrufbeantworter und kann in Ruhe kochen. Wenn es etwas wichtiges ist, kann sie es nachher abhören und wird beim Kochen nicht mehr gestört.“, sage ich. Tante Fine lächelt und findet diese Idee praktisch. Praktisch ist eines der Lieblingswörter meiner Tante. Es kommt gleich nach dem Satz: Nicht reden – machen!
Ich bekomme noch eine Tasse Kaffee!