Meine Tante Fine ist eine patente Frau von fast achtzig Jahren. Als ältere Schwester meines Vaters begleitet sie mich als weibliche Konstante durch mein Leben, solange ich denken kann. Da meine Mutter als immer wiederkehrende Leerstelle allenfalls als Randnotiz mein Leben streifte, ist Tante Fine die liebevolle Frau in meinem Leben, der ich mich verbunden fühle. Tante Fine verfügt über einen unerschöpflichen Fundus hilfreicher Lebensweisheiten, an der sie ihre Umwelt teilhaben lässt. Zu passenden und unpassenden Zeiten. Für mich war sie die Mama, die ich nie hatte, weil es meine biologische Mutter vorzog sich um die wirklich wichtigen Personen in ihrem Leben zu kümmern: An erster Stelle war das sie selbst. Das war kein Verlust- es gab ja Tante Fine.
Erst kümmerte sie sich um ihren kleinen Bruder (meinen Vater), dann um mich. Wobei kümmern in diesem Zusammenhang irreführend ist. Sie war da, wenn sie gebraucht wurde. Wenn ich mal eine schlechte Note in Mathematik schrieb, was mein Vater kaum verstehen konnte, da er leidenschaftlich mit mir die Rechenoperationen geübt hatte, stand Tante Fine bereit. Mit warmen Kakao bewaffnet, trocknete sie die Tränen bei mir. Bei ihrem Bruder reichte ein aufmunternder Klaps auf die Schulter und der mit Gewissheit getränkte Satz, dass es schon noch besser werden würde. Mit mir und dieser vermaledeiten Mathematik. Aus heutiger Sicht hatte meine Tante damit nur ein bisschen recht. Mathematik und ich sind keine Freunde geworden. Aber da befinde ich mich sicher in guter Gesellschaft. Der Mathematik ist es egal – mir mittlerweile auch. Fast.
Tante Fine ist der Beweis, das älter werden eine lohnende Sache ist. Tante Fine ist die glücklichste Person, die ich kenne und wenn ich es recht bedenke, war sie das schon immer. Aber jetzt, wo sie alt ist, meint sie, dass sie ungeniert allen ihren Wünschen nachgehen kann. Was soll passieren? Sie könnte dabei vielleicht sterben? Da lacht sie jedesmal und meint, dass sie, was das Sterben anbelangt, in der ersten Reihe sitzt. Ich habe jedesmal einen Kloß im Hals, wenn sie das sagt. Meistens nimmt sie dann die Flasche Amaretto aus dem Schrank und gießt sich ein kleines Schnapsglas voll. Dann lächelt sie mich an und sagt: »Prost meine Liebe – auf das Leben!«
Ich finde, jeder sollte eine Konstante im Leben haben, wie Tante Fine! Aber meine gebe ich nicht her. Genauso wenig, wie meine älteste Freundin Sanne, aber davon später.
«Tante Fine, ich glaube, ich habe eine Depression!»
Ich schaue betreten in meine Kaffeetasse und wage es nicht, aufzuschauen. Tante Fine schaut mich lange an und sagt: «Kindchen, das glaube ich nicht, dir geht es gerade nicht gut, aber eine Depression ist eine ernste Krankheit!»
«Genau» antworte ich, «mir geht es gar nicht gut. Ich schlafe kaum noch und meine Energie ist völlig im Keller. Ich würde am liebsten im Bett bleiben.» Tante Fine schaut mich lange an: «Aber es ist doch logisch, dass du keine Energie mehr hast, wenn du nicht schläfst. Aber dir wird es wieder besser gehen, wenn die Präsentation vorbei ist!»
Die Präsentation! Hätte ich das Projekt doch nie angenommen, aber es war so verlockend gewesen: Ein Großauftrag und ich sollte federführend alles organisieren. Und in zwei Tagen musste ich die Ergebnisse präsentieren. Was für eine Aufregung! Ich würde dafür viel Geld kassieren. Das hatte mich veranlasst, trotz besseren Wissens, das Angebot anzunehmen. Dabei hätte ich wissen können, dass es zu viel Arbeit für eine allein ist. Und dann war da noch die Anerkennung, die viel schwerer wog als Geld. Ich war geschmeichelt dass meine Arbeit so geschätzt wurde.
Jetzt war ich ernüchtert, die Anerkennung war mir egal und das Geld war schwerer verdient, als angenommen. Ich wollte nur noch schlafen. Tante Fine sah mich an und sagte: «Wie lange geht es dir schon so?» Ich überlegte: «Seit fast zwei Wochen! Ich kann nicht mehr!» Tante Fine überlegte eine Weile und nippte an ihrem Kaffee. Das schlagen der Küchenuhr war zu hören und das leise Klappern der Stricknadeln, die von Tante Fines Händen in einem atemberaubenden Tempo bewegt wurden und dabei einen Socken entstehen ließen, nachdem sie ihre Tasse wieder auf dem Holztisch abgestellt hatte.
«Wenn es dir in zwei Wochen nach der Präsentation immer noch so geht, solltest du zum Arzt gehen. Aber ich glaube, dass sich deine Depression als Überarbeitung herausstellen wird und du, wenn du erstmal wieder Schlaf gefunden hast, auch wieder Energie finden wirst. Depressionen sind schlimm und gehen nicht so einfach weg. So wie du dich gerade fühlst, fühlen sich depressive Menschen immer, auch wenn sie gerade keine Präsentation haben. Warte ab und du wirst bestimmt wieder zu Kräften kommen. Hast du dich schon mal so gefühlt?» Ich überlegte eine Weile und mir fiel direkt meine mündliche Abschlussprüfung ein. Da dachte ich auch, dass mein Leben zu Ende wäre. Ich nickte: «Weißt du noch, meine Abschlussprüfung?» Tante Fine lächelte: «Wie könnte ich die jemals vergessen! Ein Nervenbündel warst du!» Ich nickte und das erste Mal kam mir der Gedanke, dass Fine recht haben könnte. Wahrscheinlich war meine vermeintliche Depression nur eine Überarbeitung. Ich schämte mich plötzlich und sagte: «Ich neige zu Übertreibungen, was?» Tante Fine schmunzelte und antwortete: «Manchmal. Depressionen sind wirklich eine Lebensbeeinträchtigung. Und wenn du der Meinung bist, dass du erkrankt bist, dann solltest du zum Arzt gehen. Aber wenn du mich fragst, warte damit bis die Präsentation rum ist.»
Es kam wie Tante Fine sich das gedacht hatte. Mit etwas Schlaf ging es mir bald besser. Die Präsentation war ein voller Erfolg. Den angekündigten Folgevertrag würde ich zu gegebener Zeit ablehnen. Meine frei gewordene Zeit investierte ich in Recherche über Depressionen und stellte fest, dass dies eine Krankheit ist, die das Leben von Betroffenen langfristig massiv beeinträchtigt. Ich war tatsächlich nur überarbeitet gewesen. Wie es wohl Menschen geht, die langfristig ohne Lebensmut und Energie ihren Alltag bewältigen müssen und trotz der Belastung nicht die Hoffnung aufgeben, dass sie wieder gesund werden. Und wie viele schaffen ihren Alltag nicht mehr und scheuen den Weg zum Arzt? Ich bin froh, dass Tante Fine mich zum Arzt geschickt hätte, wenn sich mein Zustand nicht gebessert hätte. Zum Zahnarzt geht man doch auch, wenn ein Zahn schmerzt. Warum nicht auch bei Lebenskummer zum Arzt gehen? Für alles gibt es eine Lösung
Wer kennt ihn nicht, den inneren Schweinhund. So verschieden er daher kommen mag, sein Ziel ist ist überall ähnlich: Er hält uns ab, von was auch immer.
Er setzt sich gedanklich auf die Sportschuhe und suggeriert, dass körperliche Ertüchtigung überschätzt wird. Er weist uns den Weg des geringsten Wiederstandes und preist die schnelle Belohnung. Abends, wenn er schläft und endlich Ruhe gegeben hat, erahnen wir, dass er ein Lügner und Betrüger ist. Nicht, dass wir es schon erahnt hätten, im Bett kommt das schlechte Gewissen und bringt es auf den Punkt: Wir hätten es wissen müssen – schließlich belügt der olle Schweinhund uns nicht das erste Mal.
Meine Freundin Lena hat einen Schweinehund in sich, der ihr immer genau das ins Ohr flüstert, was sie gerade am wenigsten brauchen kann. Am meisten braucht Lena als vollbeschäftigte alleinerziehende Mutter Entspannung. Freie Zeit käme ihr da gerade recht, wenn sie denn den Weg zu Lena fände. Was sie leider bis jetzt noch nicht geschafft hat. Aber da die freie Zeit nicht auf Bäumen wächst, versucht Lena soviel freie Minuten wie möglich aus ihrem vollen Tag herauszuschlagen. Ein Kampf – sie könnte vielleicht nachts um drei aufstehen und eine ganze halbe Stunde entspannen. Wenn die Kinder schlafen und keine Termine die Entspannung blockieren. Aber Lena schläft lieber, wer mag es ihr verdenken. Sie hat es auch schon mit früher aufstehen probiert, aber auch das fiel ihr schwer. Zeit für sich findet sie an guten Tagen, wenn sie zwischen Arbeit beenden, einkaufen und Kinder im Kindergarten abholen, die Einkäufe nach Hause bringt. Wenn sie gut in der Zeit liegt, bleiben einige Minuten für sie übrig. Für sie ganz allein. Dann kann es losgehen mit der Entspannung. Ab aufs Meditationskissen, alle Gedanken ziehen lassen, einatmen und ausatmen….Und da ist er schon: Der innere Schweinehund, der geifernd und röchelnd sein Gift versprüht:
Rabenmutter – warum holst du deine Kinder nicht früher ab? Immer denkst du nur an Dich. Das klappt doch sowieso nicht mit der Entspannung. Was willst du eigentlich heute kochen? Hast du nicht den Ingwer beim Einkaufen vergessen?
An gute Tagen versucht sie sich an das zu erinnern, was sie gelernt hat, nämlich Gedanken und röchelnde Schweinehunde ziehen zu lassen. An schlechten Tagen beugt sie sich seinen Anweisungen und besinnt sich auf ihre mütterlichen Pflichten, steigt ins Auto und holt die Kinder früher ab. Nicht selten sind diese in ein inniges Spiel vertieft und wollen nur noch eben schnell zu Ende spielen. Man sollte meinen, dass der Schweinehund nun zufrieden sein sollte – aber weit gefehlt. Auch jetzt ätzt er, dass Lena zu wenig für sich tue und die Kinder sich spielerisch nicht entfalten können. Es ist verhext – er hat immer etwas zu meckern. Neulich eröffnete sie mir ihr ganzes Leid. Sie wolle ihn ihn so gern zum Schweigen bringen und wünschte sich eine Klappe, durch die er fallen solle, sobald er sich zu Wort meldet.
Wir diskutierten die unterschiedlichsten Entspannungs- und Meditationstechniken. Autogenes Training, Muskelentspannung, Meditation am Boden und im Laufen – egal was Lena machte, der Schweinehund und seine Stimme klebten an ihr. Meine Tante Fine hält nichts von Meditation – wahrscheinlich fiel sie mir deswegen gerade in diesem Moment ein. Sie sagte, da sie in ihrer freien Zeit stricken würde, bräuchte sie keine Meditation. Das verstand ich nicht. Sie versuchte es mir zu erklären: Durch die permanente Bewegung der Hände, fielen ihre Gedanken in eine Art Dämmerzustand. Bei Stricken gehe es ums stricken – da blieb kein Platz für innere Stimmen, Schweinhunde und irgendetwas Ablenkendes. Wer strickt, strickt. Sonst nichts. Tante Fine schwört darauf und sie behauptet, dass sich der gleiche Erfolg auch beim Sticken und Häkeln einstellt.
Ich packte Lena ins Auto und wir fuhren los, um Wolle und Nadeln zu kaufen. Mal schauen, ob es funktioniert.
Über das Verhältnis von Mensch und Tier lässt sich viel lesen. Putzige Katzenbilder durchseuchen das Netz soweit die Maus klicken kann. Ganze Religionen beschäftigen sich mit der Frage, als welches Tier der nicht folgsame und sündige Mensch nach dem Tod wieder geboren werden könnte. Dies führte in der Vergangenheit zu den absurdesten Geschichten und Vorstellungen. Zu guter Letzt wären noch die obligatorischen Tiervergleiche erwähnenswert:
Falsch wie eine Schlange. Störrisch wie ein Esel. Gazellengleich. Wie ein Elefant im Porzellanladen. Lästig wie eine Fliege.
Meine Tante Fine benutzt diese Vergleiche gerne und oft. Meistens untermalt sie ihre Äußerungen mit bildhafter Sprache. Erst neulich wieder, als ich sie nachmittags besuchte, um mit ihr Kaffee zu trinken. Ich hatte Marzipantorte gekauft, Tante Fine liebt Torte sehr. Da schmeckt der Kaffee nochmal so gut, behauptet sie. Wer will ihr da widersprechen. Als sie das erste Stückchen Kuchen gegessen hatte, rückte sie unversehens mit der Sprache raus.
„Ich mache mir Sorgen um Frau Gebberich!“
Dazu muss man wissen, dass Frau Gebberich die langjährige Nachbarin meiner Tante Fine ist, der sie freundschaftlich zugetan ist, was auf Gegenseitigkeit beruht. Frau Gebberich ist meines Wissens nach um die 80 und damit nur wenige Jahre älter, als meine Tante Fine. Frau Gebberich wohnt im Erdgeschoss, was ein Glück ist, da sie nicht mehr gut zu Fuß ist. Seit einiger Zeit hat sie einen Rollator, den sie sorgfältig im Treppenhaus abstellt. Auch wenn sie einkaufen geht. Sie will ihn schonen, für den Fall, dass sie ihn wirklich einmal brauchen sollte. Deswegen schleppt sie sich lieber, wie die letzten Jahre geübt und erprobt, mit ihrem Stock und dem Trolli zum Lidl um die Ecke. Frau Gebberich trennt sich nur ungern von einstudierten Ritualen. Da ich davon ausgehe, dass es um die Inobhutnahme des Trollis geht und der Rollator endlich zum Einsatz kommen soll, frage ich entsprechend nach. Aber Tante Fine winkt ab und nimmt noch ein Stück Torte. Das scheint ihr noch etwas Aufschub zu gewähren, damit sie ihre Gedanken ordnen kann. Sie erklärt mir, dass es um etwas anderes geht:
„Frau Gebberich wird immer komischer. Sie war schon immer eigen: Alles hat seinen festen Ablauf. Ihr Tag läuft nach festgelegten Mustern und Ritualen ab. Alles ist geplant und gut vorbereitet. So war sie schon immer. Aber früher kam sie besser mit Störungen des Ablaufs zurecht. Wenn sie um 11 Uhr anfing das Mittagessen zu kochen und das Telefon klingelte, dann konnte sie gut damit umgehen. Sie nahm das Gespräch an und hilt sich kurz. Das Essen war dennoch um 12 Uhr fertig. Aber jetzt? Jetzt bringt sie so ein klingelndes Telefon völlig aus dem Takt. Sie kommt mir vor, wie eine Ameise. Ameisen bewegen sich auf festen Straßen. Wehe, wenn ihnen etwas auf den Weg fällt! Dann tippeln sie auf der Stelle. Sie kommen nicht vorwärts, können nicht rückwärts gehen und links und rechts kommen sie am Hindernis auch nicht vorbei. Eine furchtbare Situation! So geht es Frau Gebberich. Sie ist für mehrere Stunden handlungsunfähig, wenn ihr Tagesablauf gestört wird.“
Ich denke nach und stelle mir eine Ameisenstraße vor, auf der ein Blatt gefallen ist. Keine der Ameisen kann etwas tun und sie sind zum Verbleib auf der Stelle verdonnert. Ich muss an den Sohn meiner Freundin Lene denken. Bei dem wurde ein Autismusspektrumsstörung festgestellt. Lene sorgt jeden Tag dafür, dass er einen geregelten Tagesablauf hat, weil ihn Unvorhergesehenes genauso aus dem Takt bringt, wie Frau Gebberich. Durch die Diagnose konnte er eine hilfreiche Autismustherapie bekommen.
„Vielleicht sollte Frau Gebberich mal zum Arzt gehen. Vielleicht hat sie genauso wie Lenes Sohn eine Autismussprektumsstörung. Die Diagnsose könnte ihr vielleicht helfen?“, sage ich, weil ich gerne Lösungen habe und schlecht aushalten kann, wenn ich nicht wirklich hilfreich anpacken kann. Tante Fine runzelt die Stirn und schaut mich über ihre Brille hinweg an.
„Diagnose?! Papperlapapp! Was soll denn eine Diagnose helfen? Früher mussten wir mit dem leben, was wir hatten und das beste daraus machen.“ Ich nicke und sage: „Also gab es damals schon die Ressourcenorientierung.“
„Kindchen, das kannst du nennen, wie du möchtest – aber eine Diagnose hilft Frau Gebberich auch nicht weiter. Bis so ein Arzt herausgefunden hat, welche Art der Autismusspektrumsstöung sie eventuell haben könnte, ist sie vielleicht schon tot! Nein – sie braucht jetzt Hilfe und keine Diagnose. “
Wir schweigen und essen Kuchen. „Kannst du Frau Gebberich vielleicht das Telefon vormittags leise stellen? Dann bekommt sie ihre Anrufe auf ihren Anrufbeantworter und kann in Ruhe kochen. Wenn es etwas wichtiges ist, kann sie es nachher abhören und wird beim Kochen nicht mehr gestört.“, sage ich. Tante Fine lächelt und findet diese Idee praktisch. Praktisch ist eines der Lieblingswörter meiner Tante. Es kommt gleich nach dem Satz: Nicht reden – machen!
…und wenn ja wie viele? ist nicht nur ein Buch von Herrn Precht aus dem Jahre 2007, sondern auch ein Zitat aus dem Film RobbyKallePaul aus dem Jahre 1989.
Während Prechts Buch mein Interesse nicht wecken konnte (vielleicht ärgerte mich damals schon, dass eins meiner Lieblingszitate plötzlich auf einem Bestseller an jeder Ecke zu lesen war), war es beim ersten Hören im Kino um mich geschehen. „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ Dieser Satz sollte ein ständiger Begleiter werden. Nicht nur für mich. Meine Tante Fine war ebenfalls begeistert. Nicht, dass in unserer Familie Multiple Persönlichkeiten als Krankheitsbild hervorstechend gewesen wären. Tante Fine begeisterte der Gedanke jeden Tag eine andere sein zu können. Nicht dass sie es gewesen wäre. Meine Tante ist aus meiner Sicht eine der beständigsten Persönlichkeiten, die ich kenne. Sie regt sich über Politik auf, verhätschelt ihre Enkel, Nichten und Neffen und besteht nachmittags auf eine Tasse Kaffee. Keine Gemütsschwankungen, keine Überraschungen. Als ich sie mit meinen bahnbrechenden Beobachtungen konfrontierte, konterte sie, dass es nicht darum ging was IST, sondern um das was SEIN KÖNNTE. Hier geht es um die Möglichkeit in den Gedanken, sagte sie. In Gedanken sei so viel möglich. Sie faszinierte phantastische Möglichkeit, unentdeckten Persönlichkeitsanteilen nachzuspüren und diese zu reanimieren. Wobei in dem Zusammenhang die Wiederbelebung irreführend sein könnte. Ich weiß nicht, ob Tante Fine jemals eine Femme fatale gewesen ist, die es wieder zu beleben galt. Sollte ich es schaffen, alle meine mutigen Anteile gleichzeitig versammeln zu können, werde ich Tante Fine dazu befragen.
Fragen hatte ich auch, nachdem ich das erste Mal das Zitat gehört hatte. Jung, wie ich damals war, verstand ich den Satz ganz anders. Nicht die gedanklichen Möglichkeiten standen im Vordergrund, sondern das was alles in mir tatsächlich da war. Und das war so einiges: Der tägliche Kampf um einen ausgewogenen Gemütszustand, der sich nur widerwillig bei mir heimisch fühlen wollte. Die Frage, welches ICH heute Oberwasser gewinnen würde und welche Auswirkungen dies auf meine Gelassenheit erwarten ließ. Welche Möglichkeiten würden mir heute durch ein unpassendes ICH Wiederwahl entgehen? Entgegen Tante Fines Durchspielen der mannigfaltigen Möglichkeiten, entdeckte ich mit Hilfe dieses Satzes, dass ich täglich den Kampf ums entscheidende ICH kämpfte. Dabei hätte ich gerne mehr mitentschieden. Meistens fehlte dafür das passende ich, weil es sich wieder mal in der falschen Kopfnische herumdrücken musste.
Als ich mich mit Tante Fine darüber austauschte, meinte sie, dass ich mich darüber freuen sollte, dass ich so ICHS zur Verfügung hätte! Was für Möglichkeiten mir das offenbarte! Mein Freude war verhalten – bis jetzt hatte ich es nicht als Ressource empfunden täglich ungebetene Persönlichkeitsanteile in die Flucht zu schlagen. Tante Fine ist sich sicher, dass ich das schnellstmöglich ändern sollte. Denn nicht mehr lange, dann entscheidet das Alter endgültig über meine ICHS – da bleiben nicht viele Persönlichkeitsanteile übrig.
Durcheinander purzelnde und überschlagende Wörter überrollten die Frau. Wörter die in Sturzbächen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche treiben. Wörter, die ihren Platz in Sätzen suchen, um sich sich als Text zusammen zu puzzeln. Texte, deren Inhalt niemand hören wird. Irrend suchen sie einen Weg aus den Gedanken. Weg aus dem Kopf, hinein in die Realität! Endlich nach draußen. Wie kleine Luftblasen bewegen sie sich in einem durchsichtigen Ballon. Durch ihn kann man nach draußen schauen. Das Leben in der Welt betrachten, jedoch niemals mit ihr in Kontakt treten. Hinter einer durchsichtigen Wand warten die unzähligen unausgesprochenen und schreienden Wörtern im Kopf, die niemals gesagt wurden. Sie warten auf bessere Zeiten und darauf, dass sie endlich an die frische Luft dürfen. So wie die Frau, in deren Kopf sich die Gedanken tummelten.
An die frische Luft musste auch die Frau häufig gehen. Es gab Tage, an denen die Luft scheinbar ihren Gedanken sagte, wohin sie zu gehen hatten. Die Frau spazierte oft und gerne. Am Ende eines Gangs hatten sich die Gedanken in dankbare Ecken sortiert und gaben Gedankenstränge frei, die nützlich eingesetzt werden konnten. Es gab Tage, an denen die Frau darüber nachdachte, was für gedankliche Kapazitäten verfügbar wären, würden diese nicht auf Vergangenes und Nutzloses verschwendet. Nicht zu vergessen, die Sorgen! Welche Ecken in ihrem Kopf frei würden, wenn sie sich weniger sorgte. Es würde fast ausreichen, wenn sie fremde Sorgen, da belassen könnte, wo sie hingehörten: Bei den anderen!
Sie schaute sich um. Sie war ein Teil der Menschenmenge, die sich auf dem Fußweg bewegte. Jeder mit einem anderen Ziel vor Augen, in unterschiedlicher Geschwindigkeit unterwegs. Von oben betrachtet glich die Menge sicher einem Ameisenhaufen. Wobei ein Ameisenhaufen geordnet ihrer festgelegten Arbeit nachging und alle Ameisen ein gemeinsames Ziel verfolgten. Vielleicht hinkte der Vergleich. Die Menschen agierten unabhängig voneinander und jeder verfolgte seine eigenen Interessen. Sie beachteten einander nicht. Im eigenen Leben als Protagonist, blieb im Leben der anderen die Statistenrolle vorbehalten. Die Frau wäre gerne in ihrem Leben mehr Protagonistin und weniger weniger Statistin.
Sie stand abseits und bewegte sich nicht vom Fleck. In ihren Gedanken suchte sie nach dem Satz, der sich heute Morgen in ihr Bewusstsein gemogelt hatte. Sie wusste, dass sie ihn im Radio gehört hatte. Wegen der Kaffeemaschine hatte sie nicht genau zugehört. Dennoch war der Satz wie Saatgut in ihrem Bewusstsein gelandet. Sie wusste, es war bereit aufzugehen, wenn sie sich darum kümmerte. Aber dafür müsste sie sich Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Das war schwierig. Sie hatte den Kopf so voll, dass es schwer war, freie Gedanken zu erwischen.
Sie seufzte. Eine Stunde war sie spazieren gewesen, um ihren Kopf zu lüften, dennoch war sie gedanklich nicht weiter gekommen. Sie brauchte eine Pause. Sie schaute sich um und entdeckte das kleine Café. Es war auf der anderen Straßenseite und hinter großen blühenden Bäumen versteckt. Es sah einladend aus. Die Frau wusste, dass dieser erste Eindruck sich in der Regel verflüchtigte, wenn sie ein Café betrat. Dann war es plötzlich zu eng, zu voll und die Menschen musterten sie etwas zu lange, als würden sie durch sie erkennen, dass sie sich unwohl in fremden Menschenansammlungen fühlte. Wahrscheinlich taten sie das auch. Und dann war es für die Frau schwer zu sprechen. Bestellen, bezahlen, alles Vorgänge, die in ihr Stress auslösten. Sie atmete tief ein, schloß die Augen und atmete aus. Sie brauchte ein Pause und machte sich mit dem nächsten Einatmen auf den Weg zum Eingang des Cafés, so wie sie es gelernt hatte. An der Tür, wieder einatmen und die Tür aufdrücken-ausatmen. Sie stand im Café und schaute sich um. Es war angenehm leer, beruhigende klassische Musik legte sich auf ihre innerliche Anspannung und sie konnte länger im Raum stehen, um sich nach einem Platz umzusehen, ohne darüber nachzudenken, was die anderen Gäste über sie denken würden. Die anderen Gäste waren in ihr eigenes Tun vertieft und keiner beachtete die Frau, die im Gang stand und sich überlegte, wo sie sitzen wollte. Das freie rote Sofa, war ihr am nächsten und sie steuerte zielstrebig darauf zu. Als sie saß, atmete sie erneut ein und wieder aus. Gleich würde die Bedienung kommen und sie fragen was sie möchte. Was wollte sie denn? Cappuccino? Kaffee? Wasser? Alles? Die Frau nahm die Karte und stellte fest, dass es nicht alles gab. Das machte es einfacher und sie entschied sich für Cappuccino und Wasser. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch und übte den Satz, den sie gleich sagen müsste, wenn sie gefragt würde, was sie bestellen wolle. Sie hatte Probleme mit Wörtern und Sätzen. Früher als Kind hatte sie viel geplappert. Mit zunehmenden Alter hatten die Wörter an Bedeutungskraft gewonnen. Dann war ihr die Sprache abhanden gekommen. Über was sollte gesprochen werden, wenn niemand zuhören wollte? Was sollte geredet werden, wenn jeder so viel schönere Dinge erzählen konnte, als ihr Leben her gab? Welche Worte sollten ausgesprochen werden, wenn diese sich falsch anfühlten? Fragen, die sie bis heute nicht beantworten konnte. Seit dieser Zeit hatten sich die Wörter in ihrem Kopf verbarrikadiert und mussten nach draußen gezwungen werden. Ein Kampf, den sie nun schon seit vielen Jahren führte. Sie fragte sich manchmal, ob sie nicht einfach aufgeben sollte.
Da war der Moment. Die Bedienung kam an den Tisch, lächelte sie an und fragte, was sie bestellen wollte. Die Frau auf dem Sofa sagte ihren im Kopf auswendig geübten Satz. Die Bedienung nickte und beendete die Situation, indem sie sich zur Theke bewegte. Die Frau auf dem Sofa atmete durch. Die Gedanken in ihrem Kopf nahmen das als Startsignal und stoben wild auseinander. Kreuz und quer ging es durch den Kopf: Der Einkauf fürs Wochenende, das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter musste besorgt werden, sie war mit der Hauswoche dran, was hatte ihr Chef heute morgen gemeint, als er so komisch „Guten Morgen“ gesagt hatte? Und warum hatte ihre Kollegin so komisch geschaut? Sie seufzte und versuchte ihre Gedanken in die Schranken zu weisen. Sie wollte über das nachdenken, was sie heute Morgen im Radio gehört hatte. Was war das nochmal? Sie wusste, dass es um Sprache ging und sie gedacht hatte: „Warum soll ich zuhören? Mir ist die Sprache schon lange abhanden gekommen?“ Aber dann hatte sie doch etwas aufgeschnappt. Bevor sie den Gedankenzipfel fassen konnte, mischte sich der Gedanke ein, dass sie nun schon über dreißig war und noch immer nicht in der Lage war, ihre Gedanken zu ordnen. Sie atmete ein und aus und versuchte die Gedanken ziehen zu lassen. So, wie sie es gelernt hatte. Alle Gedanken dürfen da sein und man kann sie ziehen lassen. Wie die Wolken am Himmel. Weiterziehen lassen. Nicht dagegen wehren, das erzeugt Widerstand und raubt Energie. Ziehen lassen. Als wenn das so einfach wäre!
Die Getränke wurden gebracht. Sie lächelte der Bedienung dankbar zu. Endlich konnte sie etwas tun. An ihrem Cappuccino nippen. Ihre Oberlippe vergrub sich im Milchschaum und sie war dankbar für das Getränkt, dass seinen köstlichen Geschmack in ihrem Mund verbreitete. Sie liebte die Verbindung vom bitteren Kaffee mit der Weiche des Milchgeschmacks. Wenn sie Kaffee oder Cappuccino trank, stellten ihre Gedanken das Flüstern ein. Deshalb trank sie viel zu viel Kaffee. Während sie schluckte kam ihr die Radiosendung vom Morgen in den Sinn. Die Sendung hieß: Alles systemisch: Sprache und Realität. Sie erinnerte sich an die Sätze, die ähnlich klangen wie: Wenn Gedanken ausgesprochen werden, dann bekommen sie nicht nur für den Zuhörer eine Bedeutung, sondern auch für den, der diese ausgesprochen hat. Das gesprochene Wort bekommt auch für den Sprecher eine neue Realität, weil er das Gesagte hört. Dann ist es in der Welt und nicht nur im Kopf des Sprechers.
Die Frau runzelte die Stirn. Was das wohl für sie selbst bedeutete? Wenn sie alles aussprechen würde, was wäre dann in ihrem Leben los? Vielleicht wären dann die lähmenden Gedanken weg? Sie schüttelte den Kopf, so war das sicherlich nicht gemeint gewesen-aussprechen und weg! Aber wenn sie selbst ihre belastenden Gedanken aussprechen würde, dann bekämen sie vielleicht eine neue Realität? Welche wäre das? Wäre das von Vorteil oder führte das zu noch größerer Belastung? Vielleicht würde sie darunter ersticken? Nicht nur in ihrem Kopf, sondern auch noch von außen? Was wäre, wenn sie der Bedienung sagen würde: „Wissen Sie, ich muss heute noch das Geschenk für meine Mutter besorgen!“ Was war mit diesem Satz, dass er ihren Kopf immer wieder mit seiner Anwesenheit belästigte? Und warum drehte er sich immer wieder im Kreis? Auf der Bühne, erhaben über alle anderen Sätze, die so viel wichtiger waren?
„Wissen Sie, ich muss heute noch das Geschenk für meine Mutter besorgen!“ Sie hatte den Satz vor sich hingemurmelt, nur zum leisen Üben. Da hörte sie die Bedienung sagen: „Aha, wissen Sie denn schon was sie verschenken wollen?“ Irritiert schaute die Frau vom roten Sofa auf und betrachtete die Bedienung. Ohne es zu bemerken, hatte sie ihre Gedanken zu laut ausgesprochen. Sie hatte wissen wollen, ob das Aussprechen für sie eine Veränderung bedeutete. Die Worte waren nicht für andere bestimmt gewesen und dennoch wurden sie gehört. Die Frau auf dem Sofa musste antworten. Sie suchte die Wörter in ihrem Kopf zusammen. Zog sie hinter verschlossenen Türen hervor, nur um sie direkt wieder entwischen zu lassen. Schließlich hob sie nur ihre Schultern und zögerte, bevor sie sagte: „Ich weiß nicht.“ Die Bedienung lächelte und sagte: „Das kenne ich. Mütter zu beschenken ist schwer.“ Die Frau auf dem Sofa schaute die Bedienung an und diese fragte: „Was haben sie denn letztes Jahr geschenkt?“ Die Frau auf dem Sofa antwortete: „Einen großen Wandkalender mit Bildern aus Asien, den sie sich gewünschte hatte. Als ich ihn ihr schenkte, wollte sie ihn plötzlich nicht mehr.“ Die Bedienung schaute die Frau an und sagte: „Warum wollte sie ihn nicht mehr? Sie hatte sich den Kalender doch gewünscht?“ Die Frau vom Sofa schaute auf ihre Hände und dann in die Augen der Bedienung: „Das weiß ich nicht. Jedes Jahr ist das so. Erst bedankt sie sich und drei Tage später bekomme ich die Geschenke zurück.“ Die Bedienung runzelte die Stirn als sie sagte: „Wäre das die Mutter einer Freundin von mir, würde ich ihr sagen, dass sie lieber sich selbst, als ihre Mutter beschenken sollte. Offenbar ist es eine Fehlinvestition, wenn sie Geld für die Geschenke ihrer Mutter ausgeben.“ Die Frau vom Sofa schaute die Bedienung lange an, bevor sie antwortete: „Wahrscheinlich haben sie recht. Ich kann es meiner Mutter sowieso nicht recht machen. Vielleicht sollte ich aufhören, es zu versuchen. Ich danke Ihnen!“ „Gern geschehen. Möchten Sie noch einen Cappuccino trinken?“ Die Frau auf dem Sofa lächelte und nickte.
Als sie wieder allein mit ihren Gedanken war, wunderte sie sich über die Stille in ihrem Kopf. Als hätten ihre Gedanken alle gemeinsam beschlossen, schlafen zu gehen. Was war passiert? Würde sie kein Geschenk kaufen? Ohne Geschenk gratulieren? Vielleicht sollte sie anrufen und gratulieren? So könnte sie dem vorwurfsvollen Blick entgehen, den sie niemals ändern würde, egal was sie tat. Ihre Mutter würde bleiben wie sie ist. Sie selbst nicht. Sie konnte etwas ändern. Sich selbst vielleicht nicht, aber ihre Handlungen konnte sie verändern. Es gab Hoffnung!
Die Frau bekam ihren Cappuccino, nahm die Tasse in die Hand und nahm die Wärme des Getränks durch das Porzellan wahr. Sie betrachtete die Tasse und fühlte die glatte Oberfläche in ihrer Hand. Sie horchte der Stille in ihrem Kopf nach. Den Satz auszusprechen hatte etwas verändert. Sie hoffte die Veränderung festhalten zu können. Sie würde kein Geschenk kaufen. Alles in ihr hatte sich dagegen gesträubt. Auf der Suche nach dem passenden Geschenk, das diesmal nicht zurückgegeben werden würde, hatte sie immer und immer wieder darüber nachgedacht, was das perfekte Geschenk sein könnte. Durch das Aussprechen hatte sie realisiert: Es gab kein passendes Geschenk, da ihre Mutter nicht das Geschenk ablehnte. Der Umstand, dass es von ihrer Tochter kam, führte zur Ablehnung. Es war egal, was sie schenken würde. Also konnte sie es auch bleiben lassen. Sie trank noch einen Schluck und genoß die Stille in ihrem Kopf, die sich in dieser Erkenntnis sonnte.
Als sie an die Theke ging, um zu bezahlen, sagte sie: „Über das Geschenk meiner Mutter zu sprechen, war nicht meine Absicht gewesen. Aber es tat gut, es auszusprechen. Danke, dass sie mir zugehört haben. Für mich hat sich dadurch Entscheidendes verändert.“ Die Bedienung lächelte, als die Frau durch die Tür verschwunden war.
Das Gefühl festhalten! Sie wollte das Gefühl festhalten. Sie schaute vom roten Sofa auf und strich mit ihrer Hand über den samtigen Bezug. Sie freute sich über das Gleiten ihrer Hand über die weiche Oberfläche. Ob es anderen Menschen immer so ging? Das Fühlen des Glücks über die Schönheit des Augenblicks? So konnte es bleiben.
Fiona, die Bedienung schaute auf die Frau herab und fragte sich, woran die Frau denken mochte. Es war nur ein kleines Lächeln, das ihr Gesicht erstrahlen ließ. Dabei hatte sie die Augen geschlossen und strich immer wieder leicht über das Sofa. Sie wollte die Frau nicht stören und wartete einfach ab. Ihr Blick fiel nach draußen und sie sah, wie die Sonne versuchte sich an der Wolkenwand vorbei zu mogeln. Fiona bezweifelte, dass sie erfolgreich sein würde. Der Tag war in eintöniges Grau gehüllt. Es war 11 Uhr, dennoch sah es aus, als würde es heute nicht richtig hell werden. Dafür müsste die Sonne energischer sein.
„Ganz schön dunkel, oder?“, sagte die Frau auf dem Sofa und lächelte, als sie Fiona anschaute. Diese antwortete: „Ja, ein typischer Januartag. Alle bleibt wie in Blei getaucht. Eigentlich der perfekte Tag für eine heiße Schokolade.“ Sie lächelte und fragte: „Was darf ich Ihnen denn bringen?“ „Ihre Idee klingt gut. Ich hätte gerne die heiße Schokolade, von der sie eben sprachen. Bitte mit viel Sahne obendrauf!“ Als Fiona lächelte, kräuselten sich ihre Sommersprossen auf der Nase. Sie nickte und verschwand in der Küche. Als sie mit der fertigen Schokolade an den Tisch der Frau zurück kam, musterte sie diese. Kurze graue Haare, um die 50, mit sportlicher Figur. Das feine Lächeln, das ihren Mund umspielte, machte die Frau aus. Sie sah glücklich aus. Fiona versuchte auszumachen, was das Glück der Frau ausmachte. Es war nichts, was mit den Augen zu erkennen gewesen wäre. Es musste verborgen in der Mimik und Gestik sein. Etwas, dass Fiona erkannte, ohne es bewusst wahrzunehmen. Etwas an der Frau zeigte der Außenwelt, dass es ihr gut ging und dass sie genau zu diesem Zeitpunkt, an der Stelle wo sie war, sein wollte.
Als die Frau ihre Schokolade in Empfang genommen hatte, wendete sie sich der Sahne zu. Sie war weich und nur leicht mit Vanillezucker gesüßt. So wie die Frau es liebte. Während sie langsam den ersten Schluck nahm, dachte sie darüber nach, wie sie das Glücksgefühl festhalten konnte. Es war aus dem Nichts gekommen und hatte entschieden sich zu ihr zu gesellen. Das allein war schon ein großes Glück gewesen. Es festhalten zu wollen, war bestimmt der falsche Weg. Instinktiv war sie sich dessen sicher. Aber wenn sie sich es sich bewusst machen würde, dann könnte sie sich die Empfindungen bewusst machen. In sich hineinfühlen: Wie der Magen, die Beine und alle anderen Körperteile sich anfühlten? Welche Gedanken bevölkerten ihren Kopf?Diese Frage ließ sie inne halten. Welche Gedanken waren das denn? Sie stellte die Tasse ab und holte ihr kleines Notizbuch aus der Tasche. Sie zog den Kugelschreiber aus der zum Notizbuch dazugehörigen Stiftschlaufe und schlug eine freie Seite auf.
Sie hielt kurz inne, bevor sie anfing zu schreiben. Sie beschloss, dass es ein erstes Brainstorming sein sollte:
Gute Gedanken-glückliche Gefühle:
Ruhe haben und sich Zeit lassen. Es änderte nichts, sich zu beeilen, denn wenn sie darüber nachdachte, was es noch alles zu tun gäbe, hätte sie schon Zeit vergeudet. Sich auf das zu konzentrieren was man gerade tat, war für sie ein Schritt zum Glück.
Was war alles gut in diesem Augenblick? Da gab es sicher einiges:
Sie war gesund, sie hatte zwei erwachsene Kinder, die ihr Leben im Griff hatten, eine Arbeit, die ihr Spaß machte. Und nicht zu vergessen: Sie hatte ein warmes Zuhause für sich. Das war wirklich ein großes Glück. Wie lange hatte sie sich danach gesehnt und wie schnell hatte sie es für selbstverständlich erachtet. Es war gut, dass sie sich immer wieder daran erinnerte, dass es ein großes Glück war, dass sie alleine leben durfte. In Ruhe. Keiner, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte.
Sie atmete ein und legte den Stift beiseite. Der Geschmack der süßen Sahne eroberte ihre Mundhöhle. Während ihre Zunge damit beschäftigt war den Geschmack zu verteilen, gingen ihre Gedanken auf Wanderschaft. Ihr kam in den Sinn, wie sehr sie es genoß, dass sie zuhause vor dem Kamin mit einem Buch sitzen konnte, ohne dass ihr jemand Aufträge erteilte. Früher war das anders gewesen. Da hatte sie keine ruhige Minute finden können. Als sie noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, war da ihre Mutter, die ihr stets sagte, was sie alles falsch gemacht hatte oder noch falsch machen würde. Später hatte sie die Stimme ihrer Mutter gegen die ihres Mannes eingetauscht. Und als diese auch nicht mehr da war, stellte sie fest, dass sie selbst ihr schlimmster und unerbittlichster Antreiber war. Die Stimme des Antreibers war in ihrem Kopf. Dort entfachte er unerbittliche Kämpfe gegen die Zeit. Sie versuchte ihren Terminkalender abzuarbeiten und stets perfekt auf alles zu reagieren. Sie brauchte keine Stimme, sie WAR die Stimme. Sie hatte den nie zufriedenen, stets anfeuernden inneren Antreiber in sich. Sie selbst gönnte sich keine Ruhe. Sie war ihr schlimmster Ruhe-Räuber und Stressverursacher. Sie hatte das Erbe ihrer Mutter angetreten. Niemandem konnte sie die Schuld dafür geben. Nur sich selbst.
Diese Erkenntnis war erschütternd gewesen. Sie hatte die Stimme ihrer Mutter zurücklassen wollen. Sie hatte gar nicht früh genug das Elternhaus verlassen können. Deshalb war sie so weit weg von zu Hause gezogen, wie es ihr möglich erschien. Nur um dann festzustellen, dass Sie die Stimme ihrer Mutter so verinnerlicht hatte, dass sie ein Teil von ihr geworden war. Das war das letzte, was sie gewollt hatte. Ihre Mutter war schon immer hartnäckig und unnachgiebig gewesen. Dennoch musste es doch einen Weg geben, damit sie nicht mehr in ihrem Kopf herumgeisterte. Dafür hatte sie die Stimme jedoch erstmal erkennen müssen. Was waren denn die Worte der inneren Antreiberin? Welches waren die Worte ihrer Mutter?
Während die Frau auf dem Sofa sich erinnerte, wunderte sie sich darüber, wie sie so lange nicht hatte merken können, dass ihre Mutter ihre Gedanken verpestet hatte. Sie erinnerte sich sehr genau daran, wie erleichtert sie war, als sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, um die ungeliebte Stimme loszuwerden. Sie hatte ein Bild ihrer Mutter genommen. Auf diesem Bild war sie nicht so vorteilhaft getroffen. Sie sah eher griesgrämig aus. Genauso wie sie aussah, wenn sie schlechte Laune hatte. Da dies eher die Regel als die Ausnahme gewesen war, gab es davon viele Fotos. Sie hatte sich eher wahllos für eins davon entschieden. Dann waren ihr die Sätze eingefallen, die sie gesagt hatte. Sie hat sie auf ein Blatt geschrieben. Dann hatte sie das Foto, einen Schuhkarton und das vollgeschriebene Blatt Papier genommen und war in den Garten gegangen. Sie hatte erst das Blatt verbrannt. Danach hatte sie sich versucht vorzustellen, welchen Raum ihre Mutter so gerne hätte, dass sie ihn nie wieder verlassen wollen würde. In ihrer Gedankenwelt hatte sie genau so einen Raum eingerichtet und sich vorgestellt, dass das Innenleben des Schuhkartons so aussehen würde. Sie hatte das Foto ihrer Mutter hineingelegt und ihr gewünscht, dass sie dort in diesem Traumzimmer endlich glücklich sein und zur Ruhe kommen würde. Den Schuhkarton hatte sie ins Gartenhäuschen ins Regal gestellt. Als sie die Türe geschlossen hatte, schloss sie die Augen und hörte: Nichts! Die Stimme in ihrem Kopf war still, weil sie nicht mehr da war.
Die Frau rührte in ihrer Schokolade, trank einen Schluck und lächelte. Dann schrieb sie auf den Zettel: Ruhe und gute Gedanken
Mein Beitrag zum Thema: Identität und Realitätsabgleich
Das Häschen raste los. Es hatte sein Bündel geschnürt, mit den wichtigsten Dingen, die ein Häschen benötigte. Die Angst und die Scham ließ es davon laufen. Schnell hatte es eine große Strecke zwischen sich und dem Angreifer gebracht. Das war gerade nochmal gut gegangen! Wie so oft. Aber wie oft konnte das noch gutgehen, fragte sich das Häschen immer wieder.
Als es immer weiter in den tiefen Wald gelaufen war, fragte sich das Häschen, wann es endlich einen Platz fände, an dem es so sein dürfte, wie es war. Es war mittlerweile so müde vom immer gleichen Suchen. Es wollte endlich einmal einen Ort finden, nicht immer nur suchen. Als es anfing zu regnen, kam das Häschen nur noch langsam voran. Dabei musste es seine großen Füße heben und sich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei grübelte es vor sich hin. Das konnte es wirklich gut! Wie oft hatte es schon versucht eine Bleibe für sich und seine Bedürfnisse zu finden. Aber bis jetzt hatte es noch keinen Platz gefunden, an dem es so bleiben durfte, wie es war. Erst gestern hatte es gedacht, dass das viele Suchen mit einem Finden belohnt worden war. Das Häschen hatte eine ruhige Stelle im Wald gefunden. Unter einem großen schönen Baum. Weit und breit war Stille und niemand zu sehen. Hier konnte sich das Häschen bestimmt verstecken und keiner würde sich an ihm stören. So dachte es jedenfalls. Das Häschen hatte eine Grube gegraben, sich hinein gelegt und gehofft, dass es niemanden stören würde, wenn ein Häschen unter einem Baum im Wald lebte. Aber das Glück hatte nicht lange angehalten. Das Häschen hatte sich gerade zum schlafen hingelegt, da vibriert die Erde. Steine und Erde flogen in die Häschengrube. Ein Erdbrocken klatschte dem Häschen auf die Nase und vor Schreck fiel es mit einem lauten „Plumps“ aus dem Bett. Blitzschnell war es totenstill. Das Häschen hatte wahnsinnige Angst. Zitternd krabbelte es vorsichtig zum Ausgang der Grube. Als es ängstlich sein Näschen an die Luft streckt, erblickte es zwei fürchterlich große Nasenlöcher. Sie schnaubten dem Häschen die Ohren nach hinten. Es musste die Augen zukneifen, weil der fürchterliche Atem dem Häschen die Tränen in die Augen trieb. Neben der großen Wildschweinnase standen zwei bedrohliche Hörner ab. Das Wildschwein schnaubte erneut und seine grollende Stimme sagte: „Was suchst du unter meinem Lieblingsbaum, du Häschen du! Du bist zu klein, zu weich und zu…. Offenbar fehlten dem Schwein da die Worte. Dem Häschen lagen schon helfende Begriffe auf den Zunge, die sie dem Schwein gerne unterstützend gegeben hätte, wie z. B. dumm, nichtsnutzig, schwach….ängstlich. Das Häschen hatte schon so viele Wörter über sich gehört, es hätte dem Schwein, das offensichtlich Wortfindungsstörungen plagten, so gerne geholfen, aber: Es traute sich nicht. Das Schwein grunzte nur und grollte mit tiefster und finsterster Stimme: „Wenn ich morgen zurückkomme, bist du verschwunden!“ Damit hatte es sich umgedreht und war mit lautem Getöse davon gestapft. Nicht ohne dem Häschen noch mehr Erde und Steine in die Grube zu schmeißen. Das Häschen hatte geseufzt. Es war tieftraurig und sammelte sein Hab und Gut zusammen. Dann war es von dannen gehoppelt, wie immer.
Daran dachte nun das Häschen, als es sich im Regen unter einen Busch gekauert hatte. Es dachte an die vielen erfolglosen Versuche für sich einen Platz im Wald zu finden. Als es sich z. B. mit großer Mühe in einem heruntergefallenes Nest einquartiert hatte, war es vom Picken einer großen Elster wachgeworden. Es hatte sich gewundert, warum dieser Vogel ein Nest am Boden beherbergen wollte, aber das Häschen konnte vor lauter Angst nicht sprechen. Es war aus dem Nest geflüchtet und hatte schnell das Weite gesucht. Auch der Versuch sich tief in die Erde zu graben, hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Auch da wohnten schon welche, die nicht bereit waren, das Häschen neben sich zu akzeptieren. Herr Maulwurf hatte drohend seine großen Schaufelhände geschwenkt und war nicht mal bereit gewesen, seine dunkle Brille abzunehmen. Das Häschen war weggerannt, so schnell es konnte. So wie heute und die vielen Male davor. Nun saß es erschöpft, traurig und resigniert unter diesem Busch, von dem es sicher war, dass es garantiert jemanden geben würde, der sich am Häschen störte. Aber so kraftlos wie es gerade war, rollte es sich trotzdem zusammen und schlief sofort ein. Es schlief sehr lange und im Traum erschien ihm die Hasenfee. Sie war eine sehr runde Hasenfee und das schlafende Häschen fragte sich im Traum, ob die Hasenfee eigentlich wusste, dass die kleinen filigranen Flügel sie eigentlich nicht tragen dürften? Wahrscheinlich wusste die Fee davon nichts, denn sie tanzte anmutig durch die Luft und schwirrte flink um die Nase des schlafenden Häschens herum bevor sie sagte: „Hase, mal ehrlich, wie lange willst du eigentlich noch vor dir davon laufen?“ Das Häschen runzelte die Stirn und antwortete: „Aber das mache ich doch gar nicht! Die anderen wollen mich nicht haben, weil ich zu dumm, klein, ängstlich,…“ Endlich, so dachte das Häschen, kann ich all die schlimmen Eigenschaften, die ich immer wieder gesagt bekomme, aussprechen…. Aber mit einer schnellen Handbewegung brachte die Hasenfee den Hasenfuß zum Schweigen. „Papperlapapp! Komm mir nicht mit solchen Ausreden! Du hast ein Recht darauf so zu sein, wie du bist. Aber wenn Du nicht sagst wer du bist, dann können die anderen auch nicht wissen, dass es gut ist, ein Häschen wie dich im Wald zu haben. Du musst nicht nur Hase sein und dich auskennen im Wald, du musst es den anderen auch sagen! Und wenn du nicht schnell einen Platz für dich finden wirst, wird von dir bald nichts mehr übrig sein. Wer soll sich denn dann um das kleine Häschen in dir kümmern? Wer soll ihm sagen, wo es sicher ist? Wer soll es versorgen? Also bitte: Finde einen Platz und zeig dich endlich!“
„Puff“, die Hasenfee löste sich in Luft auf. Das Häschen schlief noch sehr lange tief und fest. Ein Sonnenstrahl weckte es kitzelnd an der Nase. Das Häschen reckte und streckte sich ausgiebig. Es schüttelte die großen Füße aus. Dann setzte es sich vor den Busch und reckte die Nase in die Sonne. Es schloss die Augen und versuchte das kleine Häschen in sich zu finden. Und was soll ich euch sagen, es war schnell gefunden. Es saß auf einem gepackten Koffer und hielt ein Schild in der Hand auf dem stand: Kümmer dich, ich will endlich ankommen!
Das Häschen machte die Augen auf. Es sprang auf, trommelte auf der Brust und schrie aus Leibeskräften in den Wald hinein: „Ich kümmere mich und ich schaffe das!“ Da grummelte eine schneidende Stimme hinter dem Häschen: „Bist du denn total bescheuert hier so laut herumzubrüllen!?? Mach das du wegkommst!“ Das Häschen drehte sich um und erblickte einen großen schönen Fasan. Der stolze Vogel blickte herablassend in die Häschenaugen. Mit einem Satz sprang das Häschen auf den Fasan zu. Es stellte sich auf seine großen Füße und als es genau so groß war wie der Vogel, drückte es sein Gesicht an das Gesicht des Fasans und schrie, dass die Federn des Vogels nur so flogen: „Ich schreie, wann ich will und ich suche eine Bleibe für mich und mein kleines Häschen!“
Als der Fasan sein Gefieder wieder gerichtet, traurig die heruntergefallenen Vogelfedern betrachtet hatte, antwortete er: „Warum sagst du das nicht gleich? Es gibt einen schönen Hasenbau, der schon lange leer steht. Wir könnten einen Hasen wie dich in der Nachbarschaft gut brauchen, vorausgesetzt, du kannst auch leiser sprechen. Soll ich dir den Bau zeigen?“ Das Häschen nickte und nahm sein Bündel. Der Fasan schaute suchend umher und fragte: „Wo ist denn das kleine Häschen?“ Der Hase schaute den Fasan an und holte tief Luft, als es sagte: „Das ist in mir. Kann ich dir das später erklären?“ „Klar, Hauptsache du schreist nicht wieder!“, antwortete der Fasan. Der Hase sagte: „Ich kann auch ohne schreien sagen, wer ich bin und was ich möchte, versprochen!“ Der Fasan nickte und sagte: „Das ist gut, dann passt du genau hierher!“ Beide setzten sich in Bewegung.
Das kleine Häschen faltete das Schild zusammen, stand auf und verstaute es im Koffer. Es nahm ein großen Kissen und ein Buch aus dem Koffer heraus. Es atmete auf. Hier konnte es endlich bleiben und Ruhe finden. Es drapierte das Kissen so, dass es sich hinein kuscheln konnte und begann zu lesen. Das tat es für sein Leben gern!