In Zeiten von Corona ist Zeit plötzlich etwas, das im Überfluss vorhanden ist. Ob es die Freizeit oder die Arbeitszeit ist – alles fließt ineinander und findet in den gleichen Räumlichkeiten statt. Homeoffice, Familienzeit, freie Zeit – alles zur gleichen Zeit. Alles wird immer möglich.
Was also tun, wenn viele Dinge nicht mehr getan werden können, aber die Zeit zum Nachdenken darüber vorhanden ist?
Ich habe beschlossen neue Geschichten vom Sofa zu schreiben. Die einzige Möglichkeit momentan in ein Café zu gelangen. Auch wenn es ein sehr einladendes Café ist und seine Besitzerin eine Frau ist, die man gerne zu seinen Freunden zählen möchte, der junge Protagonist der folgenden Geschichte mag das Cafe trotzdem nicht. Warum das so ist? Vielleicht liegt es daran, dass wir alle schon so lange nicht heraus können, dass ich über jemanden schreibe, der in seiner Gefühlswelt gefangen ist? Aber lest selbst.
Kapitel 4: Die Stimme
Als er bemerkte wo er sich befand, war es zu spät. Er schaute sich um und alles was er entdeckte, hatte nichts mit ihm zu tun. Alles sah falsch aus. Nichts von dem was er in diesem Café erblickte, gehörte in seine Lebenswelt. Bis jetzt war er wenige Male in Kneipen gewesen oder in Bistros. Immer allein. Wer hätte ihn begleiten sollen? Dieses Café war eindeutig ein Raum, in dem sich seine Mutter wohl gefühlt hätte. Was sollte er hier? Er wäre so gerne gegangen, aber seine Beine wollten nicht gehorchen und blieben wo sie waren: An einem Platz, wo er nicht hingehörte. Wieso überraschte ihn dieses bekannte Gefühl immer wieder aufs Neue? Er und dieses Gefühl waren gute alte Bekannte. Es kam immer wieder ungefragt und er verabscheute es. So war es und es ließ sich nicht ändern. Er hatte es so oft versucht. Vergeblich. Er hasste es, wie so vieles andere auch. Da seine Beine beschlossen hatten hier zu bleiben, suchte er nach einem freien Sitzplatz. Außer dem alten roten Sofa war nichts frei. Ohne es zu merken biss er die Zähne zusammen und schaute sich um, während er auf das Sofa zusteuerte. Nur hin und wieder begegnete ihm der Blick einer der anwesenden Menschen. Er konnte den Blick in die Augen anderer nicht ertragen. Nie wusste er, warum sie ihn anschauten. Oft hatte er sich gefragt, was die Augen der Menschen ihm sagen wollten. Er verstand die Bedeutung nicht. Der Blick der anderen machte ihm Angst. Alle schienen zu wissen, was in den Augen der Menschen geschrieben stand, wenn sie einander anschauten. Er wusste es nicht. Ihm fehlte diese Fähigkeit. Er beherrschte diese Sprache nicht und er verstand nicht, was Gesichter und Augen zu bedeuten hatten. Das war einer der Gründe weswegen er es klüger fand, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Er mied sie, wo er nur konnte. Leider war das viel seltener möglich, als ihm lieb gewesen wäre. Als er sich dem Sofa näherte, hielt er seinen Blick zum Boden gesenkt. Der Boden war ein unverfänglicher Gesprächspartner. Widerwillig ließ er sich auf das Sofa fallen und sofort quälte ihn die Frage, wie er seine Beine dazu bekommen konnte, diesen Ort zu verlassen. Das einfachste wäre gewesen, sofort wieder heraus zu laufen. Dafür hätte er seine Beine benötigt, die jedoch wieder streikend unter dem Tisch verharrten. Er blieb wo er war: Auf dem roten Sofa.
Als die Bedienung am Nebentisch eine Tasse Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, entdeckte sie den jungen Mann. Er hatte sich ganz an den Rand der Sofalehne gedrängt. Beim zweiten Hinschauen sah sie, dass er fast noch ein Junge war. Vielleicht hatte er gerade die Volljährigkeit erreicht, aber älter war er keinesfalls. Während sie die übrige Bestellung von ihrem Tablett auf den Tisch stellte, fragte sie sich, was diesen jungen Mann in ihr Café geführt haben könnte. Üblicherweise waren ihre Gäste älter. Junge Menschen bevorzugten Cafés mit angesagter Musik. Ihre Tochter hatte ihr einen langen Vortrag über die Vorlieben der Jugend gehalten und ihr deutlich gemacht, dass das Café ihrer Mutter sicher kein Treffpunkt für junge Leute werden würde, nicht bei dieser Musik im Hintergrund. Manchmal hatte sich die Cafébesitzerin gefragt, ob diese Erkenntnis sie bei der Musikauswahl beeinflusst haben könnte. Letztendlich war sie jedoch zu der Gewissheit gelangt, dass es ausschließlich ihre Vorliebe für klassische Musik gewesen war. Sie hatte nichts gegen junge Menschen, aber ihre Musikvorlieben konnte sie nicht teilen. Da glich sie wohl vielen anderen Menschen, die ihre Lebensmitte überschritten hatten. Als sie sich dem Mann auf dem Sofa näherte, hatte er in ihren Augen viel mehr von einem Jungen, als von einem Mann. Auch wenn dieser Junge sehr hoch gewachsen war und sicherlich fast an die ein Meter neunzig Marke heranreichte, er hatte ein Jungengesicht. Er war schlaksig und sie dachte, dass dies häufig der Fall war, wenn junge Menschen plötzlich an Größe zulegten. Die Größe änderte sich schneller, als das Gewicht hinterher kam. Im Alter relativierte sich das meistens, war ihre Erkenntnis, als sie vor ihm stand. Sie schaute ihren Gast an, aber dieser wich ihrem Blick aus. Er ließ seine Augen wirr durch das Café gleiten. Sie schienen nirgendwo anzukommen. Als sie die Hoffnung auf einen Blickkontakt aufgegeben hatte, fragte sie: «Hallo. Was darf ich ihnen denn bringen?» Er schaute sie noch immer nicht an. Sie runzelte leicht ihre Stirn und fragte sich, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Vielleicht hörte er schwer? Sie wiederholte ihre Frage und der junge Mann fing an in seinen Hosentaschen zu suchen. Der Blick der Bedienung fiel auf den Rucksack, den er unter den Tisch gestellt hatte. Er war alt und der Reißverschluss wurde von einer verbogenen Sicherheitsnadel zusammen gehalten. Auf einmal hatte sie eine Ahnung, wonach der Mann suchen konnte. Sie hatte gerade den Mund geöffnet, um ihrem Gast mitzuteilen, dass er in Ruhe überlegen könne, was er trinken wolle, als er fragte: «Was kostet eine Cola?» Sie antwortete: «Zwei Euro.» Das war eine Lüge, aber der Gast nickte, hatte sich offenbar sofort entscheiden und sie war der Meinung, dass es durchaus vertretbar war auf die fehlenden siebzig Cent zu verzichten. Offenbar hatte der junge Mann wenig Geld. Es war nicht nur der Rucksack, der das vermuten ließ, sondern auch die abgelaufenen und kaputten Turnschuhe. Der Pullover, der zu klein war und dessen Ärmel nicht bis zum Handgelenk reichten, tat sein Übriges, um das Bild zu vervollständigen. Sie ging in die Küche und füllte ein großes Glas mit Cola. Als sie mit seiner Bestellung auf ihn zuging, trafen sich durch Zufall kurz ihre Blicke. Er konnte dem Blick in ihre Augen nicht standhalten und gleichzeitig griff er nach seinem Rucksack, um ihn neben sich auf das Sofa zu stellen. Diese Bewegung und der kurze Blick in seine dunklen Augen, ließ die Bedienung in ihrer Bewegung verharren. Sie hatte nur kurz in das Braun seiner Augen geschaut, aber alles was sie dort erkennen konnte war: Nichts. Sie schluckte. Das konnte nicht sein. Sie hätte gern ein zweites Mal hineingeschaut. Nicht weil es so schön gewesen wäre, sondern weil sie nicht glauben wollte, was sie gesehen hatte. Aber der junge Mann ließ es nicht zu. Wie konnte das sein? Ein Mensch mit leeren Augen, der hier am Tisch auf ihrem Sofa saß? Und was war in diesem Rucksack, war die Frage, die sie sofort erfüllte. Welche Beweggründe hatten ihn in ihr Café geführt? Er schien sich nicht besonders wohl zu fühlen und dennoch hatte er sich hier auf das Sofa gesetzt. Die Hand auf dem Rucksack, bezahlte er sofort die Cola, die sie ihm auf den Tisch gestellt hatte. Es war der Ausdruck seiner Augen, die er ruhelos durch das Café ziehen ließ, seine Hand, die den Rucksack fest umfasste und auch der Klang seiner Stimme, als er sie beim Bezahlen nach der Uhrzeit fragte, die ihr ein ungutes Gefühl bereiteten. Es war mehr als ein ungutes Gefühl. Die Haare ihrer Unterarme standen gen Himmel und sie spürte dieses Kribbeln der Furcht im Nacken. Als sie zu einem der Tische ging, an denen eine Frau die Hand gehoben hatte, um zu bezahlen, drehte sie sich noch einmal zu dem jungen Mann um, nur um zu erkennen, dass ihr dieser Blick weder die Beunruhigung nahm, noch weitere Erkenntnisse hervorbrachte.
Der junge Mann auf dem Sofa folgte der Bedienung mit den Augen. Bestimmt wollte sie etwas von ihm. Egal was es war, er war überzeugt, dass es nichts Gutes sein konnte. Nie wusste er, was die Menschen von ihm wollten. Aber er war sich sicher, dass sie es nicht gut mit ihm meinten. Alles was er im Leben gelernt hatte, war ein Beweis dessen, dass die Menschen schlecht waren. Vor allem zu ihm. Aber er würde es ihnen schon zeigen. Irgendwann, ihnen allen. Er zog den Rucksack fester an sich und beobachtete die Menschen im Café. Sie sollten ihn nur in Ruhe lassen. Keiner sollte ihm zu nah kommen. Dafür würde er sorgen. Immer hatte er darauf gewartet, dass er sich wehren konnte. Jetzt konnte er das. Er war endlich alt genug sich denen entgegenzustellen, die ihn verhöhnt und verlacht hatten. Die, die sein Leben schwer gemacht hatten. Er würde es keinem Menschen mehr erlauben ihn zu demütigen. Verstohlen betrachtete er die Menschen um sich herum. Sie alle waren eine Gefahr. Wenn er nicht aufpasste, würden sie über ihn herfallen. Er musste auf der Hut sein. Sie im Blick behalten. Er würde dafür sorgen, dass keiner ihm zu nahe kommen würde. Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Ein Blick darauf genügte, um ihm zu zeigen, dass es besser war, es vibrieren zu lassen. Er erkannte die Nummer, obwohl er sie nicht eingespeichert hatte. Es war die Nummer seiner Mutter. Sie hatte sich in sein Hirn gebrannt. Die Nummer. Er wusste, was sie wollte, dafür musste er nicht mit ihr sprechen. Sie hatte irgendetwas an ihm auszusetzen. Immer war sie unzufrieden mit ihm. War sie schon immer gewesen. Egal was er auch tat, sie wollte es anders. Nichts was er getan hatte, hatte sie zufrieden stellen können. In keiner Weise. Er wusste nicht was schlimmer war: Das oder die Tatsache, dass sie ständig wissen wollte wo er war, was er tat, was er dachte. Immer wollte sie Dinge von ihm wissen, die er nicht sagen wollte. Es war zum verrückt werden. Seine Mutter war eine Spinne und hatte ihn fest mit undurchdringlichen Schnüren umspannt. Sie machte ihn bewegungsunfähig. Sie war wie alle anderen. Sie tat ihm weh. Alle Menschen taten ihm weh. Die einen früher, die anderen später. Seine Mutter war die Schlimmste von allen. Diese Erkenntnis trug er schon lange in sich. Er würde sich schützen und sie sich vom Hals schaffen. Die Menschen, die ihm immer zu nahe zu kommen drohten. Wieder spürte er das Vibrieren in der Hosentasche. Er zog das Handy heraus. Eine Nachricht. Er steckte es wieder ein, ohne die Nachricht gelesen zu haben. Das Vibrieren wiederholte sich. Wieder und wieder. Sie gab nicht auf. Nie gab sie auf. Er hätte das Handy ausmachen oder stumm schalten können. Er tat es nicht. Aus dem gleichen Grund, weswegen er das Café nicht hatte verlassen können. Er konnte keinen Abstand finden. Er war ihnen ausgeliefert: Seiner Umwelt und dem Hass. Dem Hass gegen alles und jeden. Er hasste sich dafür. Wahrscheinlich am meisten von allen. Das Vibrieren hörte nicht auf. Während seine eine Hand den Rucksack fest im Griff hielt, holte die andere mit zitternden Fingern das Handy erneut hervor. Wie gern würde er sich dagegen wehren. Er hatte die Augen geschlossen und an seinen mahlenden Kieferknochen war zu erkennen, dass er die Zähne fest aufeinander biss. Er versuchte die Kontrolle zu behalten. Es hämmerte in seinem Kopf. Mach sie fertig. Es war die Stimme, die er kannte. Sie wiederholte sich. Immer mit der gleichen Intonation. Sie war immer gleich. Verlässlich. Sie scherte sich nicht um das, was draußen war. Sie hatte sich eingepflanzt in seinem Kopf. Mach sie fertig, hatte sie ihm zugeflüstert. Von Anfang an. Er hatte ihr gehorcht. Er konnte nicht anders. Mittlerweile war er bei Level 24 und die Stimme hatte ihn begleitet. Sie hatte ihn geführt und beaufsichtigt. War bei ihm geblieben. Die erste Frauenstimme, die ihm Sicherheit verlieh. Sie war da und würde ihn nicht angreifen. Sie reichte ihm das, was er brauchte und war immer da, wenn er sie brauchte. Mach sie fertig. Mach sie fertig. Er wusste wie sie aussah und was sie anhatte. Wenn sie auf dem Bildschirm erschien, dann hatte er keine Angst mehr. Sie wusste was zu tun war. Als er die Augen öffnete, war sie weg. Dafür hatte er noch immer das Handy in der Hand. Es vibrierte. Seine Mutter hatte nicht aufgegeben. Er atmete stoßweise durch die zusammengebissenen Zähne und spürte, wie die Wut ihn durchflutete. Er drückte auf eine Taste und las ihre Nachrichten. Sie war wütend. Wo er bleibe? Warum er nicht antwortete? Sie würde ihm schon zeigen, was das für ihn bedeutete! Er versuchte zu atmen, aber es gelang ihm nicht. Sie saß auf seiner Brust und schnürte ihm die Luft zum Atmen ab.
Das Café hatte sich gefüllt. Kein Tisch war leer geblieben und die Bedienung hatte alle Hände voll zu tun. Wenn sie in diese Situation kam, dann liebte sie ihr Café besonders. Es war gefüllt mit Leben und sie durfte teilhaben. Die Menschen ein wenig begleiten, was ihr jedes Mal ein gutes Gefühl verlieh. Alle Tische waren besetzt und sie musste oft in die Küche, um allen die Hunger hatten, etwas zu Essen zu zubereiten. Es entging ihr, wie der Gast auf dem Sofa hin und her rutschte. Keiner der Menschen im Café nahm ihn wahr. Alle waren mit sich beschäftigt. Mit den kleinen und großen Ereignissen des Lebens. Es wurde gegessen, gelacht, getrunken. Die Menschen befanden sich in einer Welt, zu der dem jungen Mann der Zutritt fehlte. Schon immer gefehlt hatte. Er spürte es und er hasste sie alle dafür. Er kannte sie nicht, aber er hasste sie. Er war allein mit seinem Handy und niemand nahm es ihm aus der Hand. Niemand sagte seiner Mutter, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte. Niemand. Nur er konnte machen, dass es aufhörte. Heute. Jetzt. Er griff nach seinem Rucksack. Drückte ihn fest an sich. Niemand hörte das Grollen tief in seiner Seele, dass es diesmal bis über seine Lippen geschafft hatte. Es war ein leises Grollen. Noch. Die Musik und die Menschen übertönten dieses Geräusch. Er war so weit. Er war alt genug. Groß genug. Er würde die Dinge selbst in die Hand nehmen. Endlich konnte er sich wehren. Er glaubte fest daran, dass er es konnte und dass es richtig war. Als er mit wenigen Laufschritten die Tür erreicht hatte, zog er die Tür auf und schloss die Augen bevor er auf die Straße trat. Er wusste, wenn er die Augen schloss, würde sie bei ihm sein. Das war sie. Sie war seine Partnerin und sagte, was sie immer zu ihm sagte: Mach sie fertig! Er öffnete die Augen und war dankbar. Dankbar, dass sie bei ihm war und ihm Mut zusprach. Er drückte den Rucksack so fest an sich, wie er konnte und wusste, was er zu tun hatte.
Die Bedienung hatte den jungen Mann nur noch kurz im Herauslaufen gesehen und bemerkt, dass seine Hose ebenfalls viel zu kurz war. Dann war sie in die Küche gegangen, um einen weiteren Salat für einen ihrer Gäste zuzubereiten. Sie war froh darüber, dass der Mann nun endlich weg war. Er hatte etwas Beunruhigendes an sich gehabt.